©Archiv Bundesstiftung Aufarbeitung Bestand Rosemarie Gentges Nr. 526
   Mauerabschnitt mit Graffitbild der dahinter stehenden Michaelkirche

Leo Schmidt

Mit ihrer unverhofften, ungeplanten und gewaltfreien Überwindung am 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer – auch wenn sich dies damals kaum jemand wirklich bewusst machte – gleichsam in einen anderen Aggregatzustand überführt. Das Bollwerk rund um West-Berlin, an dem über 10.000 waffenstarrende Soldaten des Grenzkommandos Mitte dafür sorgten, dass niemand die DDR in Richtung Westen verlassen konnte, war nun redundant, seiner Funktion ledig, eine ausgeknipste Maschine. Aber es war plötzlich etwas völlig Neues: nämlich Denkmal seiner selbst.

Nichts belegt diese Transformation und diesen neuen Status besser und handgreiflicher als der Umstand, dass von diesem Moment an ein allgemeines, begeistertes Fragmentieren begann. Man konnte nun dem am Boden liegenden Ungeheuer „ein Ohr abschneiden“, wie es Marion Detjen formuliert, und genau dies praktizierten Tausende, für die schnell der Name „Mauerspechte“ aufkam. Wer hätte vor diesem Moment ein Stück der Berliner Mauer begehrt? Die Grenzmauer stand zwar auf DDR-Gebiet, war aber vom Westen praktisch frei zugänglich: Dennoch waren es ja nicht nur pragmatische Erwägungen, nicht nur die Gefahr, von DDR-Grenzern gestellt zu werden, die die Leute bis dahin abgehalten hatten, sich Stücke aus der Mauer zu klopfen und zu Hause in die Vitrine zu stellen. Ein solches Fragment hätte nur in einem Gruselkabinett Platz gefunden. Der Mauerfall aber lud den grauen, deprimierenden Beton mit einer gänzlich neuen Bedeutung auf, brachte ihn gleichsam zum Leuchten.[1]

Diese Strahlkraft trug den Namen Freiheit. Liberté hatte das genau 200 Jahre früher geheißen, als die (damals alles andere als gewaltlose, aber ebenfalls ungeplante) Überwindung eines anderen Bauwerkes der Unterdrückung, die Bastille, zum Sturz eines anderen Ancien Régime führte.

Wie die Berliner Mauer, so wurde auch die Bastille, diese aus dem 14. Jahrhundert stammende und eigentlich gegen die englische Gefahr errichtete Festung im Osten von Paris, geschleift und, durchaus symbolträchtig, aus dem Stadtbild getilgt. Doch der mit dem Abbruch der Bastille beauftragte Baumeister P. F. Palloy betrachtete die Festung nicht nur als Steinbruch, dessen Baumaterial für eine Neuverwendung aufzubereiten war, sondern er sah die Symbolkraft, die der Substanz innewohnte. So kam es zu der berühmt gewordenen Aktion, in der aus jeweils einem der mächtigen Kalksteinquader Miniatur-Bastilles gemeißelt wurden, präzise skulptierte Modelle, die Palloy den Départements der neuen Republik als Kultobjekte und Freiheitssymbole zukommen ließ.

Die mit Palloys Miniatur-Bastilles vergleichbaren Segmente der Berliner Mauer wurden zu Hunderten über den ganzen Erdball verteilt, und sie werden an ihren neuen Orten oft in sehr prominenter Weise präsentiert – Fakten, die einerseits die veränderte Welt des späten 20. Jahrhunderts beschreiben, vor allem aber unterstreichen, welchen herausragenden Stellenwert die Berliner Mauer im Bewusstsein der Zeitgenossen hatte und hat.

Wie sehen diese Mauerdenkmäler aus, wie werden sie präsentiert, und was vermitteln sie? Zunächst ist auffällig, dass es sich weit überwiegend um ein und dasselbe Motiv handelt, das da präsentiert wird: um Elemente der „Grenzmauer 75“. Genauer gesagt sind es Stützwandelemente des Typs UL 12.41, die ursprünglich für landwirtschaftliche Zwecke entwickelt worden waren, aber nach ausführlichen Tests seit 1975 für die „vierte Generation“ der Grenzmauer Verwendung fanden. Diese im Querschnitt L-förmigen Stahlbetonelemente, 3,60 Meter hoch und 1,20 Meter breit, konnten praktisch nahtlos aneinandergereiht werden. Nach dem Vermörteln der Fugen bildeten sie eine scheinbar endlose Betonwand. Bekrönt mit einem aufgeschlitzten Beton-Abwasserrohr, das ein Überklettern ohne Hilfsmittel fast unmöglich machte, wurde diese Version der Grenzmauer gleichsam zur Bild-Chiffre des ganzen Bauwerkes. Dass die „Berliner Mauer“ auch noch aus vielen anderen Bauteilen bestand, geriet aufgrund dieser Dominanz der Grenzmauer aus dem Blickfeld.

Zur selben Dominanz speziell dieses Elementes der Grenze trug sicher auch bei, dass die fugenlosglatte Betonoberfläche der Grenzmauer geradezu dazu einlud, an ihrer von West-Berlin frei zugänglichen Seite mit Graffiti und Parolen besprüht und bemalt zu werden, ganz im Gegensatz zu ihren rauen und groben Vorgängermodellen. Genauer betrachtet bestand das Markenzeichen, die aus Westsicht wahrgenommene Bildchiffre „Berliner Mauer“, somit aus Grenzmauer-Element, Rohrbekrönung und buntem Graffiti. Die meisten dieser weltweit errichteten Mauerdenkmäler verwenden nur ein einzelnes Stützwandelement; manchmal allerdings treten die Elemente indessen auch paarweise oder gar in kleinen Gruppen auf. Gemeinsam ist ihnen der Habitus eines gesetzten Denkmals. Oft sind sie sogar gesockelt und es ist ihnen eine Inschrift beigegeben, ganz so, als handele es sich um die Skulptur einer berühmten Figur der Geschichte – was in gewisser Weise ja auch zutrifft.

Obwohl es sich im Kern immer wieder um denselben materiellen Gegenstand handelt – eben die Berliner Mauer, repräsentiert durch ein authentisches Belegstück –, transportieren die einzelnen Aufstellungsformen ihre jeweils ganz eigene Bedeutung. Diese Bedeutung entsteht in erster Linie durch den Kontext, in dem das Mauer-Monument präsentiert wird, manchmal auch durch spezifische Zutaten.

Die zahlenmäßig wohl größte Gruppe von Setzungen verzichtet weitgehend auf Beiwerk, präsentiert das jeweilige Mauerstück nackt und wie in einem Vakuum. Eine solche Präsentation geht offenkundig davon aus, dass das gezeigte Objekt problemlos erkannt wird und für sich selbst spricht. Sie setzt ein stillschweigendes Einvernehmen des Präsentierenden und des Wahrnehmenden voraus – im Sinne von „Jeder weiß doch, wie die Berliner Mauer aussah und was sie bedeutete“. Idealerweise handelt es sich dabei wohl um die Setzung durch einen Privatmann für sich selbst, zum Zweck seiner persönlichen Kontemplation, etwa auf dem Landgut von Hans-Olaf Henkel in Deauville in der Normandie.

Eine solche Präsentationsweise kann nur innerhalb einer homogenen Gruppe funktionieren und innerhalb einer überschaubaren Zeitphase; wendet man sie an einem öffentlichen, urbanen Ort an, so riskiert man, dass sie am Publikum vorbeigeht. Ein Beispiel dafür findet sich in Madrid, wo die kommentarlos als Mittelpunkt einer Brunnenanlage aufgestellten Mauerelemente letztlich wohl „unsichtbar“ sind, im Sinne der Feststellung von Robert Musil, es gebe „nichts auf der Welt, was so unsichtbar ist wie Denkmäler. Sie werden doch zweifellos aufgestellt, um gesehen zu werden … aber gleichzeitig sind sie durch irgendetwas gegen Aufmerksamkeit imprägniert.“[2]

Vielfältig sind die Setzungen, bei denen der Kontext zur Reflexion einlädt und Deutungsansätze durch ihn nahegelegt werden. Mauerteile im Foyer eines Verlagshauses, der Editoria Perfil in Buenos Aires, stellen die Mauer in den Kontext der Informations- und Meinungsfreiheit. Auf einem Bahnhof wie in Chicago lädt ein Mauerteil dazu ein, über die – allzu selbstverständlich genommene – Reisefreiheit nachzudenken. Einen gewissen Charme besitzt auch die Präsentation eines Mauersegmentes durch einen Anbieter von Sprachreisen in Boston (Massachusetts), wird hiermit doch das Abgeschnittensein von der Welt, das die Berliner Mauer bedeutete, mit polyglotter Weltläufigkeit kontrastiert. Mauerteile in einem Supermarkt, wie etwa in Seattle, scheinen dagegen auf das weniger hehre Thema des freien Zuganges zu Konsumgütern verweisen zu wollen.

Eine andere, interessante und vielfältige Gruppe von Setzungen bietet, aufgrund des gewählten Ortes oder durch andere Mittel, implizite – oder auch sehr explizite – Deutungen an, die sich auf die Mauer selbst oder, spezieller, auf die Geschichte ihrer Überwindung beziehen. Vor dem NATO-Hauptquartier im belgischen Mons oder auch vor dem Imperial War Museum in London stehend, bringt man Mauerteile naturgemäß mit den sicherheitspolitischen und militärischen Aspekten der Grenze und des Eisernen Vorhanges insgesamt in Verbindung. Die räumliche Collage eines Mauerteiles mit der High-Tech-Schiffsschraube eines US-Flugzeugträgers und einer Panzerkanone auf der USS Intrepid in New York drängt dem Betrachter die sehr direkte, wohl allzu platte Deutung auf, dass die Mauer letztlich aufgrund der westlichen Überlegenheit auf dem Gebiet des Wettrüstens gefallen sei, und dass der Westen den Kalten Krieg dank einer Politik der Stärke gewonnen habe.

Das Museum der U.S. Air Force in Dayton (Ohio) feiert die Überwindung der Mauer durch ein Tableau, bestehend aus einem Paar Schaufensterpuppen (in einer für DDR-Bürger des Jahres 1989 untypischen Gewandung), die vom Dach eines Original-Trabis auf die Mauer klettern und dabei eine DDR-Fahne schwenken. Das Abdeckrohr der Mauer war offenbar nicht mitgeliefert worden, sodass es durch ein etwa doppelt so dickes ersetzt wurde. Verhaltener ist die Inszenierung im Museum der Royal Air Force in Cosford: Zwei Figuren winken, auf Leitern stehend, von Westen über die Mauer in den Osten und erinnern so an die plötzliche und gewaltsame Trennung von Familien und Freunden im Jahr 1961. Dem Historiker fällt allerdings der Anachronismus auf, dass die Figuren über ein Element der Grenzmauer 75 hinweg winken, die erst ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre aufgestellt wurde.

In eingängiger Weise erinnert die Gegenüberstellung eines Mauerelementes mit einer Büste von Ronald Reagan in der Gedächtnisbibliothek dieses ehemaligen US-Präsidenten an dessen Appell „Mister Gorbachev, tear down this wall“, gesprochen im Mai 1987 vor dem Brandenburger Tor, und das Arrangement scheint nachgerade zu belegen, dass dieser Appell erfolgreich war. Dieser Kontext gehört zu einer Familie von ähnlichen Situationen, ist es doch offenbar geradezu de rigueur für die Gedächtnisbibliotheken amerikanischer Präsidenten des späten 20. Jahrhunderts, ein Segment der Berliner Mauer zu präsentieren: Außer bei Reagan finden sie sich auch in den entsprechenden Einrichtungen für John F. Kennedy, Richard Nixon, Gerald Ford und George H. W. Bush und unterstreichen so den enormen Stellenwert, den Berlin während deren Regierungszeit besaß. Aber auch die Memorial Libraries von Herbert Hoover und von Franklin D. Roosevelt, also von Präsidenten, deren Regierungszeit vor dem Mauerbau lag, nahmen Mauerteile in ihre Sammlung auf.

Wird in diesen Präsidentenbibliotheken und Militärmuseen immer wieder auf den staats- und machtpolitischen Kontext des Kalten Krieges verwiesen, so finden wir in Fatima (Portugal) eine etwas andere Sicht auf die Ereignisse des 9. November 1989: Dort lässt die Präsentation eines Mauerelementes keinen Zweifel zu, dass der Mauerfall himmlischer Intervention, genauer gesagt der Jungfrau Maria zu verdanken ist. Auf derart direkte Deutungsmuster verzichtet das Mauersegment im Zentrum des Katholizismus, im Vatikan, doch handelt es sich hierbei nicht um ein beliebiges Segment, sondern um eines mit direktem kirchlichen Kontext, trägt es doch einen Ausschnitt des Bildes der (protestantischen) Michaelkirche am Engelbecken: Deren untere Fassadenhälfte, auf die Kreuzberger-Seite der Mauer gemalt, ergänzte sich für den aus West-Berlin blickenden Beschauer mit der dahinter stehenden, zum Todesstreifen blickenden Kirchenfront zur Illusion einer transparenten Mauer.

Das Thema der Mauer als Kunstwerk, oder zumindest als Kunstträger, ist im Vatikan nur ein Nebenaspekt, doch bei zahlreichen anderen Setzungen wird ihm eine weit bedeutendere Rolle zugemessen. Der Yorkshire Sculpture Park besitzt ein Mauerelement, das ursprünglich ein buntes Graffiti-Bild aufwies und sicherlich auch deshalb erworben worden ist, doch die Aufstellung im Freien hat über die Jahre praktisch zum Verlust des Bildes geführt. Dieses Problem, dass die Graffiti zwar geschätzt werden, aber materiell nicht auf Dauerhaftigkeit angelegt sind, ist auch an vielen anderen Orten aufgetreten. Häufig ist man daher auf die Lösung verfallen, die Mauerelemente neu bemalen zu lassen. Die Art der Bemalung verrät viel über den Reflexionsgrad der Beteiligten: Malt oder sprüht man die neuen Graffiti beispielsweise auf die „falsche“, nämlich die ursprünglich dem Todesstreifen zugewandte Seite des Mauerelementes oder trägt man sie auf einer von Mauerspechten abgepickelten Oberfläche auf, so entfernt man sich in nicht unerheblichem Maß von der Situation, in der die „echten“ Graffiti entstanden. In dem Versuch, das originale Flair durch Nach- oder Neuschöpfung wieder erstehen zu lassen, sind in einigen Fällen auch namhafte Graffitikünstler aus Berlin beauftragt worden, Mauerteile an ihren neuen Orten möglichst mit vertrauten Motiven neu zu bemalen. Am erfolgreichsten war dabei wohl Thierry Noir, etwa in Paris, Dayton und Culver City.

In ihrer künstlerischen Qualität deckten die Graffiti der Berliner Mauer bekanntlich das gesamte Spektrum der Möglichkeiten ab – von ungelenken Schmierereien bis zu den Aktionen von Keith Haring. Die komplexeste Geschichte erzählen wohl die Hasen von Manfred Butzmann auf Mauerteilen, die heute in Caen stehen. Direkt nach dem Mauerfall, noch im November 1989, auf der Ostseite der Grenzmauer aufgetragen und sofort wieder von den Grenztruppen übermalt, wurden sie nicht nur durch die Witterung wieder freigelegt, sondern später auch noch vor dem Schredder gerettet. Die Hasen spielen nicht nur auf die einzigen unbehelligten Bewohner des Todesstreifens, die Kaninchen, an, sondern auch auf die Geschichte eines Ost-Berliner Kinderspielplatzes in Grenznähe, auf dem Butzmann und andere Künstler in den 80er Jahren die Hasenfahne gehisst hatten. Trotz ihrer mehrdeutigen, sicher nicht regimetreuen Anspielungen auf den gewaltlosen Widerstand der vermeintlich Schwachen einerseits, aber auch auf das Hasenpanier (als Synonym für Flucht) andererseits, blieben die Urheber offenbar unbehelligt – ganz im Sinne des Aphorismus von Karl Kraus: „Die Satire, die der Zensor versteht, wird mit Recht verboten.“ Noch 1996 diente das Motiv der Hasen zur Markierung des ehemaligen Grenzüberganges Chausseestraße durch Karla Sachses „Kaninchenzeichen“, bestehend aus 120 lebensgroßen Kaninchensilhouetten aus Messing in der Straßen- und Gehwegoberfläche.[3]

Immer wieder wurde auch versucht, mit den Mauerteilen neue Kunst zu machen, wobei die Ergebnisse insgesamt nicht sehr überzeugend waren. Als gut gemeinter, inhaltsschwerer, aber künstlerisch eher zweifelhafter Versuch ist etwa das Arrangement von acht Mauerteilen in der Gedenkstätte für Winston Churchill in Fulton (Missouri) zu werten. Aufgestellt und gestaltet von Churchills Enkelin, weisen sie zwei gleichsam eingestanzte Silhouetten auf: die (keilförmige) eines Mannes und die (kurvigere) einer Frau – in unbeabsichtigter Komik an Sehgewohnheiten aus Cartoons anspielend.

In der ganzen Bandbreite ihrer mehr oder weniger deutlichen inhaltlichen Interpretationen sagen diese weltweit aufgestellten Mauersegmente viel aus über die jeweiligen Orte und über die Umstände, unter denen die Mauerteile dort errichtet wurden. Vor allem aber erzählen sie davon, welche Bedeutung und welche Symbolkraft die Berliner Mauer für die dort jeweils Handelnden besaß. Sie sagen etwas über das Weltbild der Akteure und über die Rolle, die die Berliner Mauer in diesem Weltbild einnahm. Sie sind aufgeladen mit Bildern, Deutungen, mit Angst und Freude, Enthusiasmus und Gläubigkeit; sie spiegeln die Emotionen derer, die sie aufgestellt haben und präsentieren sie ihrer jeweiligen Öffentlichkeit.

Aussagekräftig sind diese Denkmäler aber auch, wenn man sie gleichsam gegen den Strich bürstet und zu ermitteln versucht, wo die Beschränkungen der von ihnen repräsentierten Wahrnehmung liegen.

So wurde erwähnt, dass die weltweit verbreiteten Mauer-Monumente sich weit überwiegend der Grenzmauer-Elemente bedienen – also der 3,60 Meter hohen, rohrbekrönten Betonwand direkt an der Grenzlinie nach West-Berlin. Dies wird den meisten als so selbstverständlich erscheinen, dass man es wohl geradezu rechtfertigen muss, wenn man dieses Faktum überhaupt benennt. Selbstverständlich ist diese Wahl der Grenzmauer-Elemente jedoch nur vor dem Hintergrund, dass die Berliner Mauer von Anfang an, seit ihrer Erfindung im Jahr 1961, vor allem eine visuelle Metapher war, ein Bild von hoher Symbolkraft – und überdies ein Bild, das allein von der West-Perspektive geprägt war. Dass 1961 im Kontext der Grenzschließung überhaupt eine Mauer gebaut wurde, war vor allem eine politisch-symbolische Aktion. Die Militärs hatten für Stacheldrahtsperren plädiert, und tatsächlich wurden 1961 nur knapp 10 Kilometer Mauer errichtet – der Rest des 155 Kilometer langen Grenzringes um Berlin wurde mit Stacheldraht abgeriegelt. Aber Ulbricht wollte dort, wo die Kameras der Westpresse stehen würden, und das hieß immer hauptsächlich zwischen Brandenburger Tor und Checkpoint Charlie, eine Mauer sehen, den „Antifaschistischen Schutzwall“, denn eine Mauer wird ganz anders wahrgenommen als eine – scheinbar provisorische und temporäre – Stacheldrahtsperre. Eine Mauer vermittelt Entschlossenheit und Anspruch auf Dauerhaftigkeit, obwohl die Mauer von 1961 hauptsächlich Bluff war. Sie sollte Stärke demonstrieren, aber eigentlich hofften und erwarteten die SED-Oberen, sie sehr bald wieder abräumen zu können, nachdem sie ihre Funktion erfüllt hätte.[4]

Von Beginn an tat die SED alles, die Deutungshoheit über die Grenzanlagen zu behalten – vor allem die Kontrolle über deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, also über das Bild der Grenze. An der dazu entwickelten Begrifflichkeit hätte George Orwell sein Vergnügen gehabt. Schon der „Antifaschistische Schutzwall“ war ein Begriff, der die Realität auf den Kopf stellte, suggerierte er doch, dass die Mauer gegen die aus West-Berlin anstürmenden faschistischen Horden gerichtet sei. Mit der Entwicklung des Grenzsystems, das tiefgestaffelte Sperren und den Todesstreifen umfasste, kamen weitere orwellianische Begriffe in Gebrauch. Die Grenzmauer hieß „Vorderes Sperrelement“, die nach Ost-Berlin oder zum Bezirk Potsdam gerichtete Einfassung hieß „Hinterlandsicherungsmauer“ (oder „Hinterlandsicherungszaun“); Richtung West-Berlin hieß „feindwärts“, Richtung Ost-Berlin und DDR hieß „freundwärts“ – alles Begriffe, die eine klare funktionelle Ausrichtung der militärischen Anlagen in Richtung West-Berlin zu belegen scheinen. Tatsächlich war von Anfang an klar, gegen wen die Mauer und die Grenzsperren gerichtet waren,

nämlich gegen das eigene Staatsvolk, gegen die Bürger der DDR, die bis 1961 bereits zu Millionen mit den Füßen abgestimmt hatten und über West-Berlin nach Westdeutschland geflohen waren. Jeder genauere Blick auf die Form und Anordnung der Grenzsperren belegt dies auch eindeutig, was bei unbedarften Wehrpflichtigen, die ihren Dienst bei den Grenztruppen antraten, immer wieder zu einer vorübergehenden schwindelgefühlartigen Desorientierung führte. Denn wo war vorne, wo war hinten? Der DDR-Schriftsteller Karl-Heinz Jakobs gab im August 1981 im Spiegel wieder, was ihm wenige Jahre zuvor ein ehemaliger Grenztruppenangehöriger berichtet hatte:

„… Die haben immer gesagt: antifaschistischer Schutzwall. Aber die ganze Sache war verkehrt herum gebaut. Ich bin zwar kein Baufachmann, aber dass die verkehrtrum gebaut war, sah ich sofort. Alle sahen das. Die war so gebaut, dass von unserer Seite praktisch keiner rüber konnte. Aber von drüben hätte alles rüberrollen können, was sie so hatten.

Da fing‘s bei mir langsam zu dämmern an. Vorher hatte ich die Mauer noch nie gesehen. Und jetzt sah ich mit einem Mal, dass es gegen unsere eigenen Leute ging. Bis dahin hatte ich immer gedacht, die Mauer, das ist der antifaschistische Schutzwall. Aber dazu hätte er andersrum gebaut sein müssen.“[5]

Rational waren dieser Zweck und diese Ausrichtung der Grenzanlagen den West-Berlinern, Westdeutschen und der Weltöffentlichkeit, die da Jahr für Jahr zu Millionen von den Besucherplattformen über die Grenze Richtung Ost-Berlin blickten oder mit Bildern der Grenzanlagen in den Medien konfrontiert wurden, völlig klar. Aber die Suggestionskraft des Bildes und der Begriffe war offenkundig stärker als dieses Bewusstsein der Fakten. Denn die Grenzanlagen wurden immer und ausschließlich von Westen abgebildet. Das Bild der Ostseite – funktional gesehen war die angebliche „Hinterlandsicherungsmauer“ schließlich die Hauptfassade der Grenzanlage – wurde durch die SED derart konsequent und erfolgreich unterdrückt, dass man die Ansicht von Osten heute im Computer generieren muss. Hinzu kam, so darf man wohl unterstellen, auch ein Element der Selbstbezogenheit des Westens, gar der Eitelkeit, wonach man selbstverständlich davon ausging, dass die Seite der Grenze, die einem so demonstrativ und prominent zugewandt wurde, auch die Hauptseite sein musste.

Diese Selbstbezogenheit West-Berlins, aber auch der gesamten westlichen Öffentlichkeit, wird von den Mauerdenkmälern auch heute noch transportiert, keineswegs aber reflektiert. Selbst in den wenigen Fällen, in denen Elemente der (in Richtung Ost-Berlin weisenden) „Hinterlandsicherungsmauer“ als Mauerdenkmal verwendet wurden, geschah dies allem Anschein nach nicht aufgrund einer kritischen Reflexion ihrer Funktion und Bedeutung, sondern es war das Ergebnis von Zufällen oder von pragmatischer Herangehensweise. Bei genauerer Betrachtung der Einzelfälle stellt sich heraus, dass diese Elemente entweder aus Kostengründen gewählt wurden, etwa in Odense, oder es wird durch die Art ihrer Verwendung klar, wie wenig man über ihre ursprüngliche Bedeutung wusste oder nachdachte. Dies zeigt sich vor allem dort, wo Platten aus der Hinterlandmauer vertikal aufgestellt oder gar noch mit Graffiti versehen wurden, so in West Branch (Iowa) und in Portland (Maine).

Wenn man nun fragt, welche Wahrnehmung der Berliner Mauer durch die in aller Welt aufgerichteten Mauer-Segmente transportiert wird, so ist die Antwort naheliegend: natürlich die Wahrnehmung, die aus den Jahren vor dem Mauerfall stammt, nämlich die Wahrnehmung von Westen. Die Erwartungshaltung der Interessenten, die ihre Segmente oft über die einschlägigen Auktionen im Jahr 1990 erwarben, ging dabei Hand in Hand mit den aus der DDR-Bürokratie stammenden Verkäufern, die natürlich weiterhin im Sinne der orwellianischen Grundhaltung agierten, dass die Grenzmauer schließlich die Essenz des „Antifaschistischen Schutzwalles“ verkörpere. Letztlich stehen die wohl einzigen Mauerdenkmäler, die ein Interesse an der Grenzfunktion der Mauer belegen, in Südkorea – was Sinn ergibt durch die Tatsache, dass dieses Land immer noch durch eine militärisch gesicherte Grenze in zwei Teilstaaten gespalten ist.

Die weltweit gesetzten Mauerdenkmäler basieren somit auf einer fast abstrakten, jedenfalls von der komplexen Situation in Berlin abgelösten West-Wahrnehmung der Mauer. Diejenigen, die die Denkmäler gesetzt haben, beschäftigen sich mit der eigenen Situation und der mehr oder weniger diffusen Bedrohung, die sie empfanden und die durch die Mauer symbolisiert wurde.

Worüber die in der Welt verteilten Fragmente der Mauer jedoch nichts aussagen, ist die Realität der Mauer, wie sie in Berlin bestand. Sie tragen keinerlei Informationen darüber in die Welt, wie es war, in einer geteilten Stadt zu leben und was es bedeutete, im eigenen Land gefangen zu sein.

Aber auch wenn sie somit sehr wenig mit der Mauer zu tun haben, wie sie die Berliner – im Osten wie auch im Westen der Stadt – vor Augen hatten; mit der tatsächlichen, gebauten, 155 Kilometer langen und vom Grenzkommando Mitte bewachten Grenze, die ihr Leben mit prägte, so wäre es doch engstirnig und kurzsichtig, die weltweit aufgestellten Denkmäler deshalb, aus deutscher Sicht, als irrelevant abzutun. Im Gegenteil: Von welchem Baudenkmal weltweit ließe sich denn Vergleichbares berichten? Welches andere Monument wird von Hunderten von Ablegern auf allen Kontinenten physisch repräsentiert? Welches Monument hat eine derart schillernde und vielfältige Rezeptions- und Interpretationsgeschichte? Was somit durch die Segmente belegt und konkretisiert wird, die rund um den Erdball auf Initiative der unterschiedlichsten Personen und Institutionen aufgestellt wurden, ist nichts weniger als die unvergleichbare internationale Dimension der Mauer in ihrer Denkmalbedeutung, ihrer „Cultural Significance“ im Sinne der Charta von Burra, definiert als „ästhetische, historische, wissenschaftliche, gesellschaftliche oder spirituelle Werte für vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Generationen“.[6]

Für sich genommen wirken die Fragmente gleichsam entwurzelt. Aber immerhin: Nimmt man alle die Mauersegmente zusammen, die auf der Welt verteilt sind, so sind sie insgesamt wohl länger als die am Ort in Berlin verbliebenen Reste zumindest der Grenzmauer. Aber erst durch dieses ergänzende und unverzichtbare Gegenstück, nämlich die in situ verbliebenen Reste und den authentischen Ort, wächst den in der Welt verstreuten Mauerteilen eine Verbindlichkeit zu, die aus ihrer Teilhaberschaft an einer komplexen Sachgesamtheit resultiert. Die weltweiten Mauer-Monumente sind gleichsam die „Botschafter“ der Berliner Mauer: Sie repräsentieren das eigentliche Monument, sie bringen es weltweit ins Bewusstsein. Sie „holen das Publikum dort ab, wo es steht“ (um ein Grundprinzip jeder Vermittlungsarbeit zu zitieren) und regen letztlich dazu an, ihr unverrückbar in und um Berlin verortetes Gegenstück aufzusuchen, den authentischen Ort kennenzulernen. Wie erfolgreich diese Anregung ist, lässt sich an den jedes Jahr steigenden Zahlen der internationalen Touristen ablesen, die die Orte der Mauer in Berlin besuchen.


[1] Der zugrunde liegende Mechanismus ist seit Langem vertraut; der Reliquienkult der katholischen Kirche basierte auf ihm. Feversham, Polly/Schmidt, Leo: Die Berliner Mauer heute. Denkmalwert und Umgang, Berlin 1999, S. 127 f.

[2] Zitiert nach Feversham/Schmidt 1999, S. 165 f.

[3] Feversham/Schmidt 1999, S. 158 f.

[4] Vgl. Schmidt, Leo: Architektur und Botschaften der „Mauer“ 1961–1989, in: Kuhrmann, Anke (Red.): Die Berliner Mauer – Vom Grenzwall zum Denkmal (=Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz Bd. 76), Bonn 2009.

[5] „Was haben die mit uns gemacht?“, in: Der Spiegel vom 09.08.1981.

[6] Die Definition fährt fort: „Träger kultureller Bedeutung sind das Objekt an sich, seine Substanz, sein Umfeld, sein Gebrauch, seine Assoziationen, Bedeutungen, Quellen sowie mit ihm in Beziehung stehende Gegenstände. Objekte können für unterschiedliche Personen und Gruppen unterschiedliche Bedeutung besitzen.“ Vgl. Schmidt, Leo: Einführung in die Denkmalpflege, Stuttgart 2008, S. 157.


Leo Schmidt: Studium Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Geschichte an den Universitäten Freiburg i.Br. und München. Nach der Promotion 15 Jahre beim Landesdenkmalamt Baden-Württemberg in Freiburg i. Br. tätig, zuletzt als Leiter der Denkmalinventarisation in Baden. Von 1995 bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Denkmalpflege an der BTU Cottbus.

Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit und Publikationen: Britische Landhäuser des 18. und 19. Jahrhunderts, aber auch das unbequeme Erbe des 20. Jahrhunderts, wie etwa – neben der Berliner Mauer – das Raketengelände in Peenemünde. Fellow der Society of Antiquaries of London (FSA) und Vizepräsident des International Scientific Committee on 20th Century Heritage (ISC20) des International Council on Monuments and Sites (ICOMOS).