©Stiftung Berliner Mauer
   Die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde in Berlin
©Moritz Reininghaus
   Die Gedenkstätte Günter Litfin
©Jascha Fibich / Stiftung Berliner Mauer
   "Doin' it cool for the East Side", Jim Avignon, East Side Gallery 2018
©Susanne Muhle / Stiftung Berliner Mauer
   Die Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße in Berlin

Axel Klausmeier

Berlin ist, so ist auf der offiziellen Tourismus-Website der Stadt zu lesen, „europaweit Top-3-Reiseziel nach London und Paris“ und in der Liga der „Ü30-Metropolen mit über 34 Millionen Übernachtungenvon 13,5 Millionen Besuchern in Hotels und Pensionen“ beliebt wie nie zuvor.[1] Von diesen Millionen Menschen ist mindestens ein Drittel dem „Mythos Mauer“ auf der Spur. Dessen materielle Indizien finden sie an den wichtigsten baulichen Resten der Berliner Mauer, wie etwa in der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße und an der East Side Gallery. Ebenso faszinierend ist, dass jährlich schätzungsweise 4,5 Millionen Besucherinnen und Besucher Berlins zum ehemaligen Grenzkontrollpunkt Checkpoint Charlie pilgern, von dem sie – abgesehen von einigen den einstigen Grenzübergang rahmenden Brandwänden – keine nennenswerten baulichen Überreste vorfinden.[2]

Die genannten Orte sind die zentralen touristischen Anlaufstellen des öffentlichen Interesses an der Berliner Mauer und wurden, wie Rainer E. Klemke in diesem Band ausführt, im Jahr 2006 verabschiedeten Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer konzeptionell mit weiteren bedeutenden „Mauerorten“ zusammengeführt. Das Konzept konzentrierte sich auf Reste besonders ausdrucksstarker Grenzabschnitte und hatte zum Ziel, Defizite in der Erinnerungskultur zu überwinden, dezentral existierende Erinnerungs- und Gedenkinitiativen zu bündeln sowie historische „Mauerorte“ aufzuwerten und zu entwickeln. Ebenso sollte die hier neu avisierte Stiftung Berliner Mauer, die schließlich vom Berliner Abgeordnetenhaus per Gesetzesbeschluss am 17. September 2008 begründet wurde, perspektivisch als Kompetenzzentrum fungieren und zwei wichtige Teilungsorte, nämlich die Gedenkstätten in der Bernauer Straße und die Erinnerungsstätte Notaufnahmelage Marienfelde, unter ihrem Dach vereinen. Damit wurde zugleich die ohnehin in der Stadt vorhandene fachliche Kompetenz zum Teilungsthema zusammengeführt und institutionell professionalisiert.

Der Auftrag

Der inhaltliche Auftrag der Stiftung Berliner Mauer, die eine durch Bundesmittel kofinanzierte Berliner Landesstiftung ist, wird im Gesetz klar definiert: „Zweck der Stiftung ist es, die Geschichte der Berliner Mauer und der Fluchtbewegungen aus der Deutschen Demokratischen Republik als Teil und Auswirkung der deutschen Teilung und des Ost-West-Konflikts im 20. Jahrhundert zu dokumentieren und zu vermitteln sowie deren historische Orte und authentische Spuren zu bewahren und ein würdiges Gedenken der Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft zu ermöglichen.“

Dieser Auftrag lässt sich also in die Bereiche der denkmalpflegerisch angemessenen Bewahrung der Orte, deren Vermittlung durch historisch-politische Bildungsarbeit sowie den Bereich der Dokumentation und der Erforschung der Teilungsgeschichte und deren Überwindung im Kontext des Kalten Krieges gliedern. Ausgehend von den historischen Orten fokussiert die Stiftung ihre Arbeit auf die Geschichte der Berliner Mauer und die Auswirkungen der deutsch-deutschen Teilung. Ihre inzwischen vier sehr unterschiedlichen Standorte ermöglichen eine differenzierte Auseinandersetzung mit Fragen von Teilung, Grenzen, Migration, Rechtsstaatlichkeit, Handlungsräumen und Menschenrechten in historischer und gegenwartsorientierter Perspektive. Dabei ist der historische Ort Ansatzpunkt jeglicher Bildungsarbeit. Zielgruppengenau wird etwa für Schulklassen sowie Kinder- und Jugendgruppen ein methodisch und inhaltlich vielfältiges Bildungsprogramm angeboten.

Entwicklung und neue Standorte

Mit der Gründung der Stiftung Berliner Mauer im Jahr 2008 wurden zwei sehr unterschiedliche Einrichtungen zusammengeführt, die beide aus bürgerschaftlichem Engagement hervorgegangen waren. Nicht nur behandeln die Gedenkstätte Berliner Mauer und die Erinnerungsstätte in Marienfelde  sehr unterschiedliche Aspekte der Teilungsgeschichte, auch wurden die ersten Jahre der Stiftungsarbeit insbesondere durch den 2006 beschlossenen Ausbau der Gedenkstätte in der Bernauer Straße bestimmt. Die Gedenkjahre 2009 (20 Jahre Mauerfall), 2011 (50 Jahre Mauerbau) und 2014 (25 Jahre Mauerfall) definierten den Handlungsrahmen ebenso wie die hohe politische Erwartungshaltung, zu diesen Stichtagen entweder signifikante Bauabschnitte oder schließlich das Gesamtresultat der rund 32 Millionen Euro umfassenden Gedenkstättenerweiterung der Öffentlichkeit zu übergeben. Die Gestaltung des einstigen, rund 1,4 Kilometer langen und rund fünf Hektar großen Grenzabschnittes an der Bernauer Straße wurde anfänglich nicht nur von der Frage geprägt, wie der von der SED zu verantwortende und durch die Mauer sichtbar gemachte Repressionsapparat an heutige Besucherinnen und Besucher vermittelt werden könne. Vielmehr wurden die Entwicklung des Ortes und die Arbeit der Stiftung ebenso medienwirksam begleitet, befördert durch zahlreiche hochrangige (Staats-)Gäste aus aller Welt, die die zentralen Fragen vieler Touristen teilten: „Wo war denn hier die Mauer?“ Und: „Wie erinnern Deutschland und Berlin daran?“

So entwickelte sich das Freigelände der völlig überarbeiteten Gedenkstätte und der neu konzipierten Dauerausstellung in den letzten Jahren zum zentralen Erinnerungsort an die deutsche Teilung mit zuletzt jährlich mindestens einer Million, erfreulicherweise überwiegend jungen und internationalen Besuchern aus aller Welt: Mehr als sechzig Prozent von ihnen sind jünger als 35 Jahre alt und haben damit keine eigenen Erinnerungen an die Zeit der Teilung. Etwa ebenso viele kommen aus dem Ausland, sind doch die Orte und archäologischen Stätten der friedlich und gewaltfrei überwundenen Berliner Mauer letztlich – gerade in der internationalen Wahrnehmung – Stätten der Hoffnung und Zuversicht mit einer klaren Botschaft: „Ja, Diktaturen können friedlich überwunden und Mauern können zum Einsturz gebracht werden!“

Wie bereits angedeutet, sind in den Jahren 2017 und 2018 zwei weitere Standorte unter das Dach der Stiftung gekommen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: die Gedenkstätte Günter Litfin am Kieler Eck unweit des Berliner Hauptbahnhofes und die East Side Gallery – das international wohl bekannteste erhaltene Mauerstück an der Mühlenstraße zwischen Ostbahnhof und der Oberbaumbrücke im Bezirk Friedrichshain. Der Erhalt beider Orte in den vergangenen Jahrzehnten ist wiederum bürgerschaftlichem Engagement zu verdanken.

Bei der Gedenkstätte Günter Litfin handelt es sich um eine einstige Führungsstelle der Grenztruppen, also um einen Wachturm. Nach dem Mauerfall wurde dieser zu einem Erinnerungsort für Günter Litfin, der am 24. August 1961 zum ersten Todesopfer an der Berliner Mauer wurde. Sein jüngerer Bruder Jürgen Litfin (1940–2018), selbst wegen angeblicher „Beihilfe zur Flucht“ in der DDR inhaftiert und dann von der Bundesrepublik freigekauft, setzte sich nach dem Mauerfall mit großem Engagement für den Erhalt „seines“ Turms ein. Am 24. August 2003, dem Todestag seines Bruders Günter, eröffnete er hier einen Ort der Erinnerung. Sein Hauptziel war es, das Grenzrelikt für eine breite Öffentlichkeit als Bildungsort zugänglich zu machen. Mittlerweile steht der Turm länger ohne Mauer als einst mit ihr. Diese eigene Zeitschicht des Denkmals ist ein integraler Bestandteil der Gesamterzählung. Der Stiftung ist es ein Anliegen, diesen besonderen Ort mit minimalen Eingriffen nachhaltig zu sichern und der Öffentlichkeit dauerhaft zugänglich zu machen.

Geht es bei der Gedenkstätte Günter Litfin vornehmlich um das individuelle Opfergedenken, steht die East Side Gallery mit ihren riesigen Bildern für die Zeit der friedlichen Überwindung der Mauer sowie für die künstlerische Aneignung des verhassten Bollwerks im Jahr 1990. Schnell avancierte die Ende September 1990 eingeweihte „längste Galerie der Welt“, die 118 internationale Künstlerinnen und Künstler bis dahin geschaffen hatten, zu einem neuen Berliner Highlight, zu dem die Massen seitdem pilgern. Im Jahre 2019 waren es rund 4,1 Million Menschen aus aller Welt. Die Bilder der East Side Gallery waren und sind Ausdruck der Freude und Erleichterung über den Mauerfall, sie standen für eine Zeit der Euphorie, aber auch der Besinnlichkeit, für einen Moment der Neuorientierung und für die Hoffnung auf eine bessere Welt. Ähnlich definiert dies auch das Gedenkstättenkonzept des Senats von 2006. Und doch ist die mehrfach grundsanierte East Side Gallery, deren heutiger Zustand ins Jahr 2009 datiert, mit ihren Verletzungen, Unterbrechungen und den sie umgebenden großformatigen Architekturen, die die Vollständigkeit des Ensembles dauerhaft empfindlich stören, auch ein Spiegel des beinahe drei Jahrzehnte währenden Streits um ihren Erhalt. In den nächsten Jahren gilt es, diesen auch städtebaulich sehr schwierigen und umkämpften Ort mit einer zeitgemäßen und dem Ort angemessenen Ausstellung zu erklären. Denn bislang gibt es hier noch kaum touristische Infrastruktur, die die Geschichte und Bedeutung dieses historischen Mauerortes vermittelt.

Aussichten

Die Geschichte der Berliner Mauer und deren friedliche Überwindung hat in Zeiten eines sich verändernden Europas, neuer Grenzregime sowie der dauerhaften Diskussion um eine globale Fluchtbewegung nicht an Aktualität verloren. Im Gegenteil: Fragen an die Geschichte müssen immer wieder neu gestellt werden; jede Generation entwickelt neue Perspektiven auf die Vergangenheit, um Antworten für die Gegenwart zu erhalten. Vor diesem Hintergrund sind die Standorte der Stiftung Berliner Mauer facettenreiche Erinnerungs- und Denkorte, offene Räume der Begegnung, des Austausches und der Diskussion. Mit unterschiedlichen, multiperspektivisch angelegten Bildungsformaten wird zur (Selbst-)Reflexion und zum Dialog eingeladen. Jeder Ort ermöglicht einen eigenen Zugang zur Geschichte – und damit zur Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart; Besucherinnen und Besucher können Zeitgeschichte in ihrer lokalen und globalen Dimension entdecken. Menschen begegnen sich mit ihren Erlebnissen und Erfahrungen und können sich mit unterschiedlichen Geschichtsbildern auseinandersetzen. Die Erinnerungsorte der Stiftung dienen letztlich auch der ethischen, politischen und historischen Vergewisserung, denn die Stiftung Berliner Mauer tritt für eine offene, demokratisch verfasste Gesellschaft und ein solidarisches, respektvolles Zusammenleben ein. In diesem Sinne will sie die Ausbildung eines differenzierten Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft fördern und den Wert politischer Teilhabe verankern helfen. Deshalb ist die Arbeit der Stiftung keinem statischen, selbstreferenziellen Selbstverständnis verpflichtet: Ergänzend zu den bisherigen Tätigkeiten lassen alle Arbeitsbereiche fortan bisher marginalisierte Sichtweisen stärker zu Wort kommen, um ein umfassenderes Bild der Zeitgeschichte zu vermitteln. Diese Erweiterung kann Ambivalenzen und Kontroversen zutage treten lassen, doch ermöglicht sie zugleich, diverse Narrative im erinnerungskulturellen Diskurs zu verankern.

Dies alles soll zukünftig auch noch an zwei weiteren historischen Orten der Teilung geschehen, die jeweils anders von der Geschichte der Mauer erzählen und die perspektivisch von der Stiftung betreut werden sollen: zum einen das in unmittelbarer Nähe des Reichstages gelegene „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ des Berliner Künstlers Ben Wagin, dem letzten authentischen Mauerort inmitten des Regierungsviertels, zum anderen auf einem Teilareal des wohl berühmtesten Grenzübergangs der Welt, dem einstigen Checkpoint Charlie. Dort soll mittelfristig ein musealer Erinnerungsort zur Geschichte der Berliner Mauer in ihrer internationalen Dimension und im Kontext des Kalten Krieges entstehen. Die Stiftung Berliner Mauer hat vom Land Berlin den Auftrag erhalten, den Entwicklungsprozess dieses Bildungs- und Erinnerungsortes fachlich zu begleiten und ein museales Konzept zu entwickeln.

Pfarrer Manfred Fischer (1948–2013), die treibende Kraft sowohl beim Erhalt der Mauerreste in der Bernauer Straße als auch bei der konzeptionellen Entwicklung und der politischen Durchsetzung der Gedenkstätte Berliner Mauer, hat all diese Bemühungen zur Verteidigung der demokratischen Verfasstheit unseres Gemeinwesens in zahllosen Gesprächen mit dem Autor sehr einfach auf den Punkt gebracht: „Inhaltlich gesehen dürfen wir uns nie sicher fühlen oder gar ‚fertig werden‘, denn sonst wird unsere Arbeit gesellschaftlich irrelevant!“ Wie recht er hatte.


[1] www.visitberlin.de, Zugriff am 29.3.2020. Als „Ü30-Metropolen“ werden Städte mit über 30 Millionen Übernachtungsgästen pro Jahr bezeichnet.

[2] Die Stiftung Berliner Mauer beauftragte 2019 eine Besucherforschung, die im Mai und Juli 2019 durchgeführt wurde. Dabei hat die quantitative Erhebung ergeben, dass jährlich rund 4,1 Millionen Menschen die East Side Gallery und rund 4,5 Millionen den einstigen Grenzkontrollpunkt Checkpoint Charlie besuchen.


Axel Klausmeier: Seit 2009 Direktor der Stiftung Berliner Mauer und seit 2012 Honorarprofessor für Historische Kultur- und Erinnerungslandschaften an der BTU Cottbus-Senftenberg. Zur Stiftung Berliner Mauer gehören die Gedenkstätte Berliner Mauer, die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, die East Side Gallery und die Gedenkstätte Günter Litfin.

Zahlreiche Publikationen zur Dokumentation, zum Umgang mit und zur Vermittlung von historischer Bausubstanz und historischen Kulturlandschaften, insbesondere zur Geschichte und Bedeutung der Berliner Mauer.